Hartmut Schmidt, Vorstand der Sparkasse der Homburgischen Gemeinden und selber Vereinsvorsitzender des Mehrspartenvereins TuS Elsenroth, eröffnete die Ausstellung am Montag, 26. März. Unter den Gästen begrüßte er u.a. den 1. Bürger der Stadt Wiehl, Herrn Bürgermeister Werner Becker-Blonigen und Gattin, sowie die Vorstände des Turnverbandes Aggertal Oberberg Jürgen Finke (Finanzen), Ute Klein (Verwaltung) und Christel Blum (Aus- und Weiterbildung) und die weiteren anwesenden Vorstandsmitglieder, alle anwesenden Vertreter aus den Mitgliedsvereinen des Turnverbandes, die Turnsportinteressierten und die Vertreter der Presse.
Entscheidend für die Auswahl einer Ausstellungsanfrage – so Hartmut Schmidt – sei für die Sparkasse Wiehl letztendlich immer die Frage, dass das Thema auch zur Haus-Philosophie passe… . „Und ich meine, wenn man sich nur drei Schlagworte aus der Einladung zur heutigen Veranstaltung vor Augen führt – „Soziale Gleichheit, soziales Engagement und Ehrenamt“ – alles Begriffe, die bereits vor 200 Jahren mit Beginn der Turnbewegung eine Rolle gespielt haben, weiß man, dass diese Themen eng mit der Sparkassenarbeit hier in der Region verbunden sind“, so Vorstand Schmidt am Eröffnungsabend. „Es ist uns wirklich ein großes Anliegen, die Arbeit der vielen Vereine im Homburger Land und damit auch das Engagement vieler Ehrenamtler, wo immer möglich zu unterstützen. Wenn dann auch noch der Wiehler Dipl. Sportlehrer Jürgen Schmidt-Sinns mit seinen Ausstellungsexponaten in der Region Station machen möchte, dann können wir natürlich gar nicht anders, als unsere Räumlichkeiten hierfür zu öffnen.“
In der Vereinswelt würden die Turner mal etwas belächelt – von Fußballern, Handballern oder Tennisspielern – resümiert Hartmut Schmidt, jedoch bildeten die Turnabteilungen in Mehrspartenvereinen, beginnend z.B. mit dem „Mutter-Kind-Turnen“, eine hervorragende Basis auch für alle anderen Abteilungen im Verein. Hier werde tolle Grundlagenarbeit im Turnsport geleistet und die Erfahrung zeige, dass die Turnbereiche in den Vereinen eher zu den bescheidenen Vereinsabteilungen gehören. „Ich bin auch der festen Überzeugung, dass der Gedanke des Turnens der ja vor 200 Jahren seinen Anfang genommen hat, auch in den kommenden Jahrzehnten, vielleicht hier und da durch neuzeitliche Elemente ergänzt, Bestand haben wird“, so Sparkassenvorstand Hartmut Schmidt. „Das ehrenamtliche Arbeit dabei sicher auch vor neue Herausforderungen gestellt wird, ist vor dem Hintergrund demografischer Entwicklungsdaten, aber auch der finanziellen Situation der öffentlichen Hand leicht nachzuvollziehen. Hier ist Kreativität, sind neue Modelle gefragt; wenn dabei nur einmal an die Frage gedacht wird, wie die eine oder andere Turnhalle künftig noch betrieben werden kann. Vor diesem Hintergrund freue ich mich deshalb ganz besonders, dass diese Veranstaltung die Möglichkeit bietet, den Turnsport und die Geschichte des Turnens, wie man so schön sagt, einmal „ins Schaufenster“ zu stellen.“
Ute Klein, Vorstand Verwaltung im Turnverband Aggertal Oberberg, brachte in Ihrem Grußwort zum Ausdruck, wie sehr sich der Turnverband freut mit der Sparkasse Wiehl einen Partner gefunden zu haben, der dem Turnverband Aggertal Oberberg und dem „Turnsport-Verrückten“ sowie Eigentümer der Exponate, Jürgen Schmidt-Sinns, Ihr Vertrauen schenkte und diese Ausstellung >>Brückenschlag – 200 Jahre Turnen im Spiegel der Zeit im Forum ermöglichte.
Dem Turnverband sei es ein Anliegen diese Ausstellung, die erstmals im Juni 2011 anlässlich des Landesturnfestes in Remscheid/Solingen gezeigt wurde und seitdem – im Jahr des 200-jährigen Bestehens des ersten Turnplatzes auf der Berliner Hasenheide (selbst ARD und ZDF berichteten darüber im Sommer 2011!) – durch ganz Deutschland tourt, vor Ort bei den Mitgliedsvereinen im Verbandsgebiet – möglichst zentral im Oberbergischen – zu zeigen.
Unter Turnern sagt man „Du“ – noch heute! So halten es auch Ute Klein und Jürgen Schmidt-Sinns; sie kontaktieren sich regelmäßig in Sachen Aus- und Weiterbildung des Turnverbandes. „Bis zur Wiederbegegnung im Turnverband habe ich meinen ehemaligen Sportlehrer des Dietrich-Bonhoeffer-Gymnasiums hier in Wiehl gesiezt. Und er mich auch – denn ich glaube nicht, das er sich wirklich an mich als Schülerin erinnern kann“, untermauert Ute Klein die zweihundert Jahre alte „Du-Philosophie“ des Turnens. Und umreißt weiter das Schaffen von Jürgen Schmidt-Sinns: „Ich wollte mich als Schülerin nicht im Sport-Leistungskurs der Oberstufe am Barren, Reck, auf dem Schwebebalken oder dem Trampolin von ihm „schleifen“ lassen und bin dem schon damals in den 70er Jahren „Turnverrückten“ – und das meine ich ausschließlich im positiven Sinne – aus dem Weg gegangen. In meinem Heimatverein TV Oberbantenberg habe ich zwar als Fünfjährige mit dem Kinderturnen angefangen und über die Jahre auch die Turnwettkämpfe des Aggertaler Turngaus mitgemacht, doch ab 13/14 brannte mein Sportlerherz für Handball und Volleyball – auch im Schulsport.“
Ute Klein verweist auf die typische „Breiten-/Vereinssportler-Karriere“ von Kindern und Jugendlichen hin, mit der sich Vereinsvorsitzende, Übungsleiter und Ausbilder, wie Jürgen Schmidt-Sinns, seit Jahrzehnten beschäftigen müssen: als Kleinkind werden sie Vereinsmitglied, man schult sie in ihrer Grundbeweglichkeit und Koordination, um sie fit und gesund zu machen/erhalten, bei ihnen Selbstbewusstsein und Offensive zu stärken und sie an weitere Herausforderungen im Kinderturnsport heranzuführen und dann wenden sie sich einer anderen Sportart zu bzw. ganz aktuell in den letzten Jahren, sind sie durch den Ganztagsschulbetrieb zeitlich so eingeschränkt, das sie kaum noch die Möglichkeit für den Vereinssport finden. Zeugnisse ähnlicher Herausforderungen während der letzten 200 Jahre sind in der Ausstellung zu finden.
Ute Klein schildert den Idealismus von Jürgen Schmidt-Sinns: Jürgen ist Oberberger, wird in diesem Jahr 70 Jahre alt und steht – ohne ihm da zu nahe zu treten – morgens mit Turnsport auf und geht abends mit Turnsport ins Bett. Er hat ein großes Büroatelier in seinem Privathaus, wo der Computer den ganzen Tag online ist, wo das Telefon ziemlich oft das Besetzt-Zeichen anbietet, weil Jürgen sich mit Turnsportinteressierten und Auftraggebern bespricht und wo sich in Schränken, Regalen und auf dem Sofa eine Unmenge an Exponaten seit den Anfängen des Turnens vor über 200 Jahren befinden. Briefträger und Paketzusteller kennen die Adresse von Jürgen Schmidt-Sinns in- und auswendig, weil ihm in regelmäßigen Abständen weitere Exponate zugestellt werden, die Jürgen wieder irgendwo aufgetrieben hat und die bei ihm als Sammler in den richtigen Händen sind. Seine Heimatvereine waren bzw. sind der VfL Gummersbach von 1957 bis 1980 und seit 1980 bis heute der TuS Wiehl. Jürgen war als Jugendlicher und junger Mann erfolgreicher Gerätturner und Jahnkämpfer und absolvierte an der Sporthochschule Köln sein Studium.
Jürgen Schmidt-Sinns war nicht nur Sportlehrer(von 1973 bis zur Rente am DBG Wiehl); als Beauftragter im Schulsport der Bezirksregierung Köln war er im Bereich der Lehrerfortbildung für das Gerät-, Trampolinturnen und für Sicherheit zuständig. In den 80er und 90er Jahren hatte er – mit deutlicher Kontinuität – führende Ämter beim Deutschen Turnerbund und Rheinischen Turnerbund inne (im DTB: Bundesjugendturnwart (1980 – 1982), Bundesmännerturnwart (1982 – 1990), Mitglied des Bereichsvorstands „Allgemeines Turnen“ als Verantwortlicher für Bewegungsgestaltung (1990 – 1991); im RTB: Landesfachwart Gerätturnen (ab 1993), Schulsportbeauftragter (ab 1997)). Als Bundesmännerturnwart des Deutschen Turnerbundes entwickelte ein Expertenausschuss unter seiner Leitung das Freie Turnen.
Jürgen Schmidt-Sinns hat im Rahmen seiner Tätigkeit im Turnsport viele große/besondere Aufgaben äußerst erfolgreich gemeistert, wie
1975 – die verantwortliche Durchführung des 1. Landesjugendturnfestes in Kempen
1985 – die Gymnaestrada-Kommission des DTB Gymnaestrada in erning/Dänemark
1987 – die Konzeption und Leitung des Bildes „Spiele“ bei der Abschlussveranstaltung zum Deutschen Turnfest Berlin
1990 – die Konzeption und Leitung der Turnschau zum Deutschen Turnfest Dortmund-Bochum 1990 – die Verantwortung für den fachlichen Bereich der Gymnaestrada – dem Weltturnfest in Amsterdam; hier auch die Durchführung (Konzeption und Regie) des „Deutschen Abends“ und des Einladungsbildes zur nächsten Gymnaestrada nach Deutschland
Folgende Ehrungen wurden Jürgen Schmidt-Sinns in Anerkennung seines unermüdlichen Engagements und seines Idealismus zuteil: 1976 auf der Jugendvollversammlung in Wiehl die RTB-Ehrennadel und 1992 der DTB-Ehrenbrief.
Jürgen publiziert Turnfachliches in verschiedenen Fachzeitschriften und ist Autor von mehreren Fachbüchern zum Jugendturnen, Minitrampolin, Trapezturnen, Gerätturnen und zu Parkour und Freerunning. Er ist redaktionell verantwortlich für die „Lehrbriefe“ des DTB; macht Konzeption und Durchführung von Modell-Lehrgängen im DTB. Als Berater ist er noch heute tätig für Hersteller von Sportgeräten. Er ist als Referent im Einsatz bei internationalen Lehrgängen des FIG, der Europäischen Turnunion und dem Deutschen Sportlehrerverband. Noch vor Kurzem war Jürgen Leiter zweier Fortbildungen der Bezirksregierung hier in Wiehl mit 25 Sportlehrern und -innen, denen Parkour und Freerunning vermittelt wurde. Als Referent in der Helfer-, Übungsleiter- und Trainerausbildung kennt ihn auch der Turnverband Aggertal Oberberg über Jahrzehnte regelmäßig.
Bereits anlässlich des 125-jährigen Verbandsjubiläums des Turnverbandes stellte Jürgen viele seiner Exponate für eine mehrwöchige Ausstellung im Foyer des Gummersbacher Rathauses und des Parkhotels Nümbrecht zur Verfügung.
In der Ausstellung in der Sparkasse Wiehl nun sehen und hören die Besucher, was Jürgen Schmidt-Sinns mitgebracht hat zur Brückenschlag – 200 Jahre Turnen im Spiegel der Zeit, die auf seinem Konzept für die Ausstellung zum Landesturnfest 2011 basiert.
„Lieber Jürgen, herzlichen Dank für Dein unermüdliches Engagement und für das Turngen in Dir, welches Dich auch an der Wende zum siebten Jahrzehnt nicht ruhen lässt. Möge es Dich noch viele Jahre bei guter Gesundheit weiter antreiben“, mit diesen Wünschen schloss Ute Klein, Vorstand Verwaltung im Turnverband Aggertal Oberberg von 1884 e. V., ihre Laudatio. Eine Präsentation von „Höhenflügen und akrobatischen Bewegungskünsten durch jugendliche Turnerinnen und Turner aus den Mitgliedsvereinen im Verbreitungsgebiet des Turnverbandes Aggertal Oberberg zeigte am Eröffnungsabend eindrucksvoll wohin sich der Turn-Breitensport zurzeit entwickelt hat. In der direkten Gegenüberstellung mit den 32 großformatigen Ausstellungstafeln und „Spiegelbildern“ konnten die Besucher Bewegungen und Haltung, Geräte und Kleidung vergleichen. Turnsport im Sparkassen-Forum zwischen Kronleuchtern und Arbeitsplätzen – das war die rasant dargebotene Praxis zur bebilderten Theorie. Die Ausstellung „Brückenschlag – 200 Jahre Turnen im Spiegel der Zeit“ dokumentiert mit zeitgenössischen Abbildungen und Aussagen das frühe turnerische Bewegungs- und Erziehungsprogramm. Sie schlägt eine Brücke zu heutigen Bewegungsprogrammen.
Die Ausstellung wurde im Auftrag des Rheinischen Turnerbundes von Jürgen Schmidt-Sinns konzipiert und bereits im Kölner Sport- und Olympiamuseum gezeigt. Sie stellt das erstaunlich modern anmutende, sportpädagogische Bewegungs- und Organisationskonzept des frühen Turnens ab 1811 heraus, das auf Freiwilligkeit, soziale Gleichheit und Selbstorganisation mit demokratischen Zügen basiert und das noch heute unser Turn- und Sportvereinswesen prägt. Die integrativen Bewegungsangebote unserer Turn- und Sportvereine beruhen auf einem gesellschaftsbedeutenden, ehrenamtlichen und sozialen Engagement, das vor 200 Jahren auf der Berliner Hasenheide seinen Anfang genommen hat. Sie richteten sich an alle Menschen – unabhängig von Alter, Geschlecht, Leistung, sozialer Herkunft und beziehen gezielt Menschen mit Migrationshintergrund oder gesundheitlichen Handicaps ein. Als Referent des Abends gab Jürgen Schmidt-Sinns dann in seiner Einführung fachkundig von 200 Jahren Turngeschichte Zeugnis: Welche Leibesübungen wurden wie vor 200 Jahren unter dem Namen der Turnkunst betrieben – und – ist so ein Rückblick überhaupt noch für unser modernes Sportgeschehen in irgendeiner Weise relevant? Mit diesen Fragen beschäftigt sich die Ausstellung. Erhellende Einblicke liefern dabei die zeitgenössischen Aussagen und Abbildungen und zeigen ein vielfältiges und jugendgemäßes Bewegungs-, Erziehungs- und Bildungsprogramm des frühen Turnens auf. Letztendlich soll in einem „Brückenschlag“ anhand von Parkour verdeutlicht werden, dass diese frühen Turnkünste – heute oft als veraltet angesehen – bei den modernen Bewegungskünsten in den Freestyle-Sportarten wieder ganz aktuell geworden sind.
Im Frühsommer 1811 setzte der Lehrer Friedrich Ludwig Jahn mit der Gründung des ersten öffentlichen Turnplatzes „um Jugendspiele und einfache Übungen vorzunehmen“ – wie er es ankündigte – eine Entwicklung in Gang, die heute noch das sportliche Schul- und Vereinswesen prägt. Die Sportwissenschaft hat sich in der Vergangenheit überwiegend mit der Persönlichkeit Jahns und der nationalpolitischen Seite des Turnens befasst und erstaunlich wenig mit der von ihm begründeten sportpädagogischen Praxis. So wird allgemein das frühe Turnen als eine vormilitärische Ausbildung in nationalpolitischer Absicht angesehen, verbunden mit Drill, Ruck und Zuck, in übertrieben straffer Haltung und ausschließlich an Geräten durchgeführt. Dieses Meinungsbild ist falsch. Es beruht auf den späteren Ausführungsformen in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, wo in Hallen und Räumen überwiegend Ordnungs-, Frei- und Gemeinübungen im Gleichklang und auf Kommando ausgeübt wurden. Das waren erlebnisarme Turnübungen in militärischer Ausführung, die nicht im Geringsten dem wilden, freien Tummeln auf der Hasenheide glichen. „und ich werde nie zugeben, dass die Turnkunst etwas anders als ein Hauptteil der notwendigen Gesamtbildung sei“ – diese bedeutende Aussage Jahns gegenüber dem Philanthropen Vieth, spiegelt klar seine Auffassung wider: er sah in seinem Turnen kein vormilitärisches Ausbildungsprogramm sondern einen wertvollen und unverzichtbaren Bildungsfaktor. Es wäre zu wünschen, wenn auch heute noch alle Bildungstheoretiker davon überzeugt wären, dass Bewegung, Spiel und Sport als ein notwendiger Hauptteil der Gesamtbildung anzusehen sei.
Die Untersuchungen von Jürgen Schmidt-Sinns über die frühe Turnpraxis zeigen ein völlig anderes Bild als sich die Allgemeinheit vom frühen Turnen macht. Auf der Hasenheide entstand eine für den Anfang des 19. Jahrhunderts geradezu revolutionäre Organisationsform und Praxis, die heute zum Teil noch als modern einzustufen ist, nämlich ein Bewegungsprogramm
- öffentlich und ohne Drill,
- für jedermann zugänglich,
- alters- und ständeübergreifend,
- wo die Gleichheit durch die gleiche bequeme Turnkleidung (grauer Drillich) und das „DU“ auf dem Turnplatz sicht- und hörbar gelebt wurde, und
- wo nicht zuletzt die demokratische Selbstorganisation und mit gewähltem Turnrat und Übungsleitersystem, sowie die Selbstfinanzierung, die Selbstbestimmung der Turnenden garantierte.
Es gibt nur wenige zeitgenössische Beschreibungen über das frühe Turnen – vielleicht rührt daher die Unwissenheit. Einer der kenntnisreichsten Berichterstatter über den Turnplatz Hasenheide, der präzise die dort stehenden Geräteaufbauten und Bewegungsaktivitäten beschreibt, ist der Lotteriedirektor und Mundartdichter Johann Jakob Wilhelm Bornemann aus Berlin. Er unterstützte die Turnerei und sein junger Sohn war selbst einer der eifrigen Turner auf der Hasenheide. Siehe auch seine beiden Schriften über das Turnen in der Hasenheide von 1812 und 1814 – den ersten Turnbüchern überhaupt.
Und welche Bewegungstätigkeiten finden sich in dieser Zeit? Nach anfänglichen Wanderungen im Jahre 1810 mit einer kleinen Schülergruppe in die Hasenheide zu den Rollbergen – verbunden mit Gelände- und Laufspielen und anderen Leibesübungen – war im Laufe eines Sommers eine große Schar regelmäßig übender Jungen geworden. Die abenteuerlichen Erlebnis- und Bewegungsaktionen zogen die jugendlichen Schüler Berlins, die sich zum Teil in Jugendbanden bei Straßenkämpfen heftig befehdeten, magisch an. Diese Jugendlichen werden als „verwildert, versteift und verfeindet“ beschrieben. Und so wird auch nicht ohne Grund immer wieder von den Autoren betont, dass der Turnplatz „Versöhnung“ bereitet hat. Zwei der aufgestellten Turngesetze, auf deren Einhaltung streng geachtet wurde, betrafen diesen Frieden untereinander. Ich zitiere den Schluss daraus: „jeder soll bloß Turnen – in Friede, Freude und in Freundschaft.“ Diese problematische Stadtjugend fand also zunehmend Gefallen an den erlebnisreichen Aktivitäten und besonders an den wilden Spielen in der Natur – Spiele – ähnlich der Schnitzeljagd oder Räuber und Gendarm, Geländespiele, wie sie die meisten von ihnen in ihrer Jugend wohl ebenfalls gespielt haben.
Die Jugendlichen schlossen sich so zahlreich den Wanderungen und Spielen an, dass ein fester Spiel- und Turnplatz als notwendig erachtet wurde. So wurde 1811 – vom Oberförster wohlwollend genehmigt – wie uns Bornemann mitteilt – ein Platz in der Hasenheide umzäunt und mit Eigenhilfe und auf Kosten Jahns Geräte und Klettertürme aufgebaut, Sprunggräben gezogen, Laufbahnen geglättet, Spiel- und Ringplätze begradigt. Am Mittwoch- und Samstagnachmittag – traditionell schulfrei – wurde von der Jugend bis in die Abendstunden gelaufen, mit und ohne Stangen weit und hoch gesprungen, geworfen, gerungen, geklettert, balanciert, am Pferd und Balken geturnt. Besonderes Interesse fanden auch die Übungen an den neu entstanden Geräten Reck und Barren. Später kam als Übungstag noch der Sonntag für die Berufstätigen hinzu – Turnen war also auch eine altersübergreifende und ständeübergreifende Leibesübung: Der Handwerker turnte mit dem Offizier, der Schüler mit dem Lehrer, der Student mit dem Professor – wie schon gesagt: revolutionär. Kleine Wanderungen und größere mehrtägige Fußreisen gehörten ebenfalls zu dem Bewegungsprogramm der Turner, wie sie sich jetzt nannten.
Im Winter bildeten sich die älteren ausgewählten Vorturner praktisch und theoretisch weiter. In einem größeren Saal, den man angemietet hatte, wurde am lederüberzogenen Pferd geschwungen und gesprungen. Es wurde gefochten und das Bodenturnen ausgeübt: Kopfübern und Luftspringen nannte man diese Rollen und Überschläge, die auch schon auf Matten ausgeführt wurden. Später kam die Ausbildung in der Schwimmschule hinzu. Das Schwimmen lernten die Vorturner von den Halloren, die traditionell beruflich bei ihrer Salzgewinnung das Schwimmen beherrschen mussten und diese Kunst weitergaben. Wir finden hier also ein vielseitiges umfassendes Sportprogramm vor, wo bei der Vermittlung – ganz bedeutend – jeglicher Drill und jede Gewalt als Erziehungsmittel verpönt war – auch das war neu!
Im Laufe der Zeit schälte sich ein festes Konzept heraus, mit der sogenannten Turnkür in der ersten Hälfte des Turnnachmittags. In dieser Zeit konnten die Teilnehmer ein ihnen genehmes Programm auswählen, entwickeln und üben. Darauf folgte eine Pause – dem Ting – wo gegessen und getrunken, erzählt und patriotische Lieder gesungen wurden. Die 2. Hälfte war der Turnschule vorbehalten, in der fest eingeteilte Riegen alters- und leistungsgemäß ihre Turnfähigkeit und -fertigkeit schulen konnten. Insbesondere das Prinzip Kür war damals nicht nur in ihrer Selbstbestimmung fortschrittlich neu, sondern ist im Lichte heutiger pädagogischer Vorgehensweisen wert, näher betrachtet zu werden. Hier wurde jedem seine individuelle Handlungsfreiheit ermöglicht, die nicht nur organisatorisch in der Wahl des Spiels, einer leichtathletischen Disziplin, eines Turngeräts oder der genehmen Gruppe lag, sondern es wurde damit auch die eigenschöpferische Tätigkeit angeregt – nämlich ohne Vorgaben und Normen kreativ neue Übungen zu erfinden, zu erproben und weiter zu entwickeln. Diese didaktische Maßnahme der kreativen Eigenentwicklung und Selbstbestimmung innerhalb des Sportunterrichts gewinnt heute in unseren neuen Sportcurricula und Kernlehrplänen und auch bei der Übungsleiterausbildung zum Ganztag als Handlungsfähigkeit immer mehr an Bedeutung.
Die große Anzahl der Jugendlichen und jungen Männer (bis zu 500 Teilnehmer, max. 800) konnte durch das ebenfalls neue Prinzip der Selbstorganisation, wie es das Vorturnersystems darstellt, ausreichend bewegt werden. Diese gewählten älteren Vorturner wurden gezielt aus- und fortgebildet und standen den Turngruppen in der zweckmäßigen Größe von 8-12 Schülern – je nach Disziplin – vor. Schon in den ersten Jahren nach ihrer Gründung wurde diese Turngesellschaft, – wie sie sich nannte – auf der Hasenheide in Berlin Vorbild für viele Turnplätze innerhalb und außerhalb Preußens. In Berlin ausgebildete Vorturner wurden von den Ministerien angefordert und trugen diese Idee „Leibesübungen für alle“ als Teil der Gesamtbildung weiter. Bis zum Verbot des Turnens 1820, der sogenannten Turnsperre bis 1842, das die reaktionären politischen Kräfte durchsetzen konnten, waren 150 Turnplätze in ganz Deutschland – besonders in den Universitätsstädten – entstanden.
Das erfolgreiche Prinzip der Turnbewegung bestand aus Freiwilligkeit, Selbstorganisation und Öffentlichkeit, sowie einer Pädagogik, die jugendgemäß, nicht verschult und nicht verdrillt war.
Erlebnisorientierung, Wagnis und spielerisches Abenteuer, Selbstbestimmung, Selbsttätigkeit und Freiheit waren pädagogische Perspektiven, die die Jugend dazu brachten, außerhalb der Schule ihre körperlichen Anlagen als Teil der Gesamtbildung gemeinsam, anstrengungsbereit und mit Freude zu entwickeln. Jahns Bestreben war es, durch seine freie Erziehung zur Selbstbewusstheit, Selbstständigkeit und Gleichheit die bisherige Erziehung zur „Untertänigkeit“ zu ersetzen. Er wollte die Jugend, ich zitiere „unter freudigem Tummeln im jugendlichen Wettstreben auf geselligem Wege gemeinschaftlich“ ausbilden, sie sollten „entdecken, erfinden, ersinnen, versuchen und erproben“. So konnte seiner Meinung nach die Lehrkraft – wie er ausführt – die „versteckte Eigentümlichkeit beim Einzelnen“ auffinden, ihn individuell „zu eigenem Schrot und Korn“ erziehen. „Die Turnkunst als Pflegerin der Selbsttätigkeit führt auf geradem Weg zur Selbstständigkeit. Sie fördert die leibliche Gesamtausbildung des Menschen durch gesellige Regsamkeit in lebensfrischer Gemeinschaft.“ So Jahn in seiner Deutschen Turnkunst von 1816 (Jahn/Eiselen, 1816, V, S. 218/219).
Der Brückenschlag zu heutigen Bewegungskünsten: Betrachtet man diese Erlebnispädagogik, so kann es auch nicht verwundern, dass ganz aktuelle sportliche Bewegungsformen, wie Parkour und Freerunning, in der frühen Turnkunst wurzeln. Sie kennen vielleicht diese artistischen Aktionen aus Film oder Fernsehen, wie z.B. in dem James Bond Film Casino Royal, wo eine wilde Verfolgungsjagd in Freerunner-Manier mit Sebastien Foucan als Darsteller, gezeigt wird.
Jürgen Schmidt-Sinns beschäftigt sich seit einigen Jahren mit diesem modernen urbanen Straßenturnen, wo der direkte, effiziente Weg das Ziel ist, um es methodisch sicher für den Schulsport aufbereiten zu können. Und er konnte feststellen, dass die Überwindungen – die sogenannten Moves – die in den Lauf eingebunden sind, ausschließlich alle den frühen Turnelementen entsprechen. Es ist also nicht falsch, in Parkour und Freerunning alternative Ausprägungen des Turnens zu erkennen, die dem freien, wilden Treiben auf der Hasenheide sportpädagogisch mehr ähneln als dem heutigen traditionellen und genormten Gerät- und Kunstturnen. „Ich habe mich hier bewusst nicht mit der umstrittenen Persönlichkeit Jahns auseinandergesetzt, deren Beurteilungen im Laufe der Geschichte von enthusiastisch bewundernd bis vernichtend abwertend ausfallen. Ebenso nicht mit den nationalpolitischen Zielen des Jahnschen Turnens, die sich nur aus den damaligen politischen und gesellschaftlichen Verhältnissen erschließen lassen: dazu gehörten die Befreiung von Napoleons Herrschaft, die Einheit des deutschen Vaterlandes, die Pressefreiheit und die standesunabhängige Gleichheit aller Bürger. Nein, es ging mir darum, die sportpädagogischen Besonderheiten des frühen Turnens aus den zeitgenössischen Berichten herauszuarbeiten“, schließt Jürgen Schmidt-Sinns sein Einführungsreferat anlässlich der Ausstellungseröffnung. „Mein kurzes Fazit: Die vielfältigen Bewegungserfahrungen, das verantwortliche Wagen, die gestalteten Vorführungen öffentlich vor Zuschauern, das kooperierende Miteinander, das konkurrierende Leisten, und nicht zuletzt die Gesundheitsfürsorge – alle diese Lehrplänen pädagogischen Perspektiven eines bildungswirksamen, sinn- und wertvollen Schul- und Vereinssports – wurden auch im damaligen Turnen b e w u s s t angestrebt und zur Legimitation herangezogen. Das lässt sich eindeutig aus den Primärquellen belegen. Und mit welchem Ziel? „um für die Anforderungen des Lebens gerüstet zu sein“, wie es der Vater des Turnens Friedrich Ludwig Jahn ausdrückt oder für ein bewegungsaktives Leben, wie es heute der Vater der neuen Lehrplangeneration Dieter Kurz als Zielsetzung formuliert.“
Geöffnet ist die Ausstellung von Dienstag, 27. März bis Freitag, 13. April für den Publikumsverkehr zu den Sparkassen-Öffnungszeiten 9 bis 16:30 durchgehend sowie montags/donnerstags bis 18 Uhr und freitags bis 15.30 Uhr.
Für die Ausstellungsdauer steht Referent Jürgen Schmidt-Sinns nach Terminvereinbarung für Gruppenführungen zur Verfügung. Dies spricht vielleicht die Gruppen an, die während der Osterferien am eigentlichen Übungsstunden-Termin etwas anderes unternehmen möchten und dies im schönen Homburgischen Städtchen Wiehl nach dem Ausstellungsbesuch ausklingen lassen. Terminvereinbarung bitte über den Turnverband Aggertal Oberberg: geschaeftsfuehrung@turnverband-aggertal-oberberg.de oder 0163 333 2026.
Ute Klein
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Fotos: Christian Melzer
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